„Selbsterkenntnis ist die Erkenntnis im anderen“


spiritualitat aktuell

In diese von Rudolf Steiner geprägte Aussage mündete der Vortrag von Stephan Wunderlich am 9.6.2016 in Titisee-Neustadt zum Thema:

Spiritualität im Spiegel der Zeit

Vor lebendig interessiertem Publikum leitete der Referent den Vortrag ein mit einer Definition zum Begriff „Spiritualität“, als das was den Menschen beseelt, ihn inspiriert und zu einem schöpferischen Wesen macht. Im Anschluss daran wurden Bilder von Einweihungsstätten der Antike gezeigt und dran erläutert, dass die Menschen in diesen Stätten zu einer unmittelbaren Erfahrung einer geistigen Wirklichkeit geführt wurden. Dies geschah nach den Angaben von R. Steiner zu dieser Zeit so, dass der Adept durch einen Priester oder Eingeweihten, der das Wissen darum hatte, durch bestimmte Methoden für einige Tage in eine Art todähnlichen Zustand gebracht wurden. In diesem Zustand machten sie dann übersinnliche Erfahrungen und die geistige Welt war für sie ab diesem Moment Realität. Diese Erkenntnis gab ihnen schließlich die Fähigkeit, ihre Aufgaben im Leben mit größerer Weisheit und Kraft bewältigen zu können. Auch in heutiger Zeit beinhaltet die Einweihung die unmittelbare Erfahrung einer geistigen Realität, die Methoden und Wege sind aber heute grundlegend andere.

Stephan Wunderlich leitete dann auf das Leib-Seele-Verhältnis über. Dieses, so beschrieb er, wäre in der heutigen Zeit kompakter und fester als früher. Die Menschen hätten im Laufe der Entwicklung ein größeres Selbstbewussten errungen, das in der Geistschulung berücksichtigt werden müsse. Früher übten die Schüler auf den spirituellen Wegen intensivste Askese, zogen sich aus dem Leben zurück und begaben sich unter die Führung eines Lehrers, dem sie sich zu absolutem Gehorsam verpflichteten.

Durch dieses kompaktere Leib-Seele-Verhältnis sei aber heute nicht mehr ein Rückzug aus dem normalen Leben in ein Kloster, ein Ashram oder eine Einsiedelei mit Bußübungen sinnvoll, denn dies würde den Menschen noch mehr in das leibliche Innere zurückbinden. Vielmehr sollte der spirituell Suchende in der heutigen Zeit in seinen bisherigen Verhältnissen bleiben und schrittweise geeignete spirituelle Inhalte in sein derzeitiges Leben integrieren. Es müssen deshalb heute vor allem die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens gestärkt und mit spirituellen Inhalten eingestimmt werden, damit die Seele sich freier vom physischen Körper bewegen kann. Der Geistschüler kann sich heute auch nicht mehr einem Lehrer oder Guru überantworten, sondern muss die Verantwortung für den Weg viel mehr selbst übernehmen. Er benötigt daher auch das Wissen über den Schulungsweg und die Übungen, die er praktiziert.

Der erste Schritt einer Einweihung, so Herr Wunderlich, liegt in der Begegnung mit einem spirituellen Lehrer. Durch das Erkennen der Spiritualität im anderen Menschen wird der eigene geistige Anteil angeregt und der Wunsch nach spiritueller Entwicklung belebt. Die Seele lockere sich im Moment der Begegnung. Es folgten Bilder von spirituellen Lehrern der Vergangenheit und Gegenwart, die mit einigen wesentlichen Eigenschaften ihrer Persönlichkeit charakterisiert wurden. An den Bildern konnte bereits die überraschende Ausdrucksqualität spiritueller Persönlichkeiten erahnt werden

Der Referent führte dann aus, dass der Einzelne heute durch das gewachsene Selbstbewusstsein sich getrennter von seiner Umgebung, von Mitmenschen wie auch von den Kräften in der Natur fühle. Er sehne sich deshalb nach tieferer Verbindung. Ein besonderer Schwerpunkt der aktuellen spirituellen Entwicklungswege läge deshalb darin, dass der Mensch seine Trennung durch gezielt nach außen gerichtete Aktivitäten zunehmend überwinden lerne. Die nach außen gerichtete Aufmerksamkeit kann beispielsweise mit geeigneten Fragen direkt an den spirituellen Lehrer gerichtet werden:

  • Wie denkt und handelt der Lehrer?
  • Welche Ziele verfolgt er?
  • Worüber freut er sich – worunter leidet er?
  • Welche Ideale drückt er aus? u.a.

Indem der Mensch Eigenschaften, Qualitäten und Ideale im anderen entdeckt und schätzt, bringt er sie auch bei sich selbst zur Entfaltung.

Die nach außen gerichtete Aktivität kann aber auch auf einen anderen Menschen gerichtet werden. Als Beispiel demonstrierte er eine Betrachtungsübung mit einer Besucherin des Vortrags. Die Frau wurde mit objektiven Gedanken der Wahrnehmung betrachtet: Wie sieht ihr Gesicht aus, ihrer Haare, ihr Schmuck, ihre Kleidung, wie alt ist sie usw.? Das längere Verweilen bei einer Betrachtung für einige Minuten wurde als sinnvolle Übung angeregt. Die Übung demonstrierte auch, wie die oftmals subjektiven Gefühle der Sympathie und Antipathie durch eine konkretere und sachliche Außenwahrnehmung überwunden werden können. Die Übung mündete schließlich in eine Frage nach dem Verhältnis der Seelenkräfte in der Person. Ist diese Person mehr vom Denken, vom Fühlen oder vom Willen geprägt? Gibt es Schwächen, gibt es Stärken in den Seelenkräften? Damit kam eine mehr metaphysische Frage in die Betrachtung und begleitete die weitere Hinwendung zu der Person.

An dieser Stelle kam eine interessante Frage aus dem Publikum:

Was hat diese Übung mit Spiritualität zu tun?

Die Antwort war, dass sich durch den objektiven Außenbezug das eigene Seelenleben weitet, was sich z.B. in einer näheren Beziehung zum anderen Menschen ausdrücken kann. Dieses Hinüberblicken zum anderen erfordere ein Grenzüberschreiten der eigenen Subjektivität. Hier zitierte er auch den Gedanken von Rudolf Steiner: „Wenn du dich selbst erkennen möchtest, so erkenne den anderen.“ Des weiteren entsteht mit der metaphysischen Fragestellung eine neue Blickrichtung. Man entwickelt dadurch mit der Zeit einen Sinn für etwas, für das man bisher noch keinen Sinn angelegt hat.

Zeitgemäße Geistschulung, so Stephan Wunderlich, bedeute auch, das Leben zunehmend inhaltlich zu gestaltet. Für diese inhaltliche Gestaltung gab er ein Beispiel aus der Yogapraxis mit der Übung des „Baumes“. In der Regel erhoffe man sich von der Übung eine bestimmte Entspannung oder Erholung. Da man sich z.B. im Beruf häufig verausgabt, möchte man natürlich mit der Übung wieder etwas Kraft und Energie auftanken. Um aus dieser Polarität zwischen einmal Verausgaben und einmal Auftanken herauszutreten, benötigen wir aber gerade auch für die Übung ein sinnvolle inhaltliche Gestaltung.

Geht man beispielsweise von dem Gedanken, dass eine gesunde Begegnung einen offenen, objektiv wahrnehmenden Blick nach außen bedarf und sich dabei aber nicht nach außen verlieren, sondern die Wahrnehmung zu sich selbst behalten sollte, dann lässt sich ein solcher Inhalt auch bildhaft in der Übung ausdrücken, man findet ihn aber auch in jeder Begegnung des Tages wieder. Mit dem Inhalt schafft der Übende eine Brücke zum alltäglichen und sozialen Leben. Sehr authentisch demonstrierte Herr Wunderlich diese inhaltliche Bedeutung am Beispiel der Yogaübung des Baumes.

Am Ende des Vortrags wurden noch einmal einige wesentliche Punkte zusammengefasst, z.B. die Grenzüberschreitung des eigenen subjektiven Innenlebens durch eine konkrete und klare Außenwahrnehmung. Dieser Gedanken wurden im gesamten Vortrag sehr anschaulich und klar erlebt. Der Vortrag war insgesamt geprägt von freilassender Offenheit bei gleichzeitig guter Zentrierung, sowohl beim Vortragsredner, wie auch bei den anwesenden Zuhören.

Die Zuhörer zeigten sich überrascht über die lebensnahe und weniger esoterische Behandlung des Themas und sie zeigten sich dankbar für viele wertvolle Anregungen.

(GH)